Peter Weibel: „In einprägsamen, beißend scharfen Bildern, seien es Fotografien, seien es Zeichnungen, hat Birgit Jürgenssen die bestehenden einschränkenden kulturellen und sozialen Konditionierungen der Frau, die Mechanismen und Automatismen der Unterdrückung der Frau, dekonstruiert. […] In der Zeichnung „Fensterputzen“ [Abb. li] 1 (1974) wird quasi ein Lebensfilm der Frau projiziert, vom Glücksversprechen der Ehe bis zum Elend des Alltags. Immer wieder zeigen die Zeichnungen Codes der Leibeigenschaft und der Enteignung […].
Jürgenssens Zeichnungen zeigen uns die Effekte der Domestikation, wie sie bereits Friedrich Engels 2 in seinem berühmten Werk über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates analysiert hat. Engels identifizierte die mittelständische Familie als Organisationseinheit innerhalb der kapitalistischen Ökonomie, die der Reproduktion von Arbeitskraft diente. Die fortschreitende Industrialisierung verlagerte die Produktion von Gütern immer mehr außerhalb des Hauses in Fabriken, sodaß schließlich die Männer die eigentliche Arbeit in den Fabriken leisteten und die Hausarbeit daher nicht mehr als eigentliche Arbeit galt und dementsprechend auch nicht bezahlt wurde. Die Hausarbeit, von Frauen verrichtet, gilt nicht als Lohnarbeit. Indem der Mann allein das Geld nach Hause bringt, das für den Einkauf von Gütern notwendig ist, wird die Arbeit der Frau im Haushalt entwertet und somit auch die Position der Frau. Feminisierung und Hausfrau-Codifizierung, so zeigt uns Jürgenssen deutlich, sind daher pejorative Prozesse innerhalb des kapitalistischen Weltsystems.“ 3
1 Jürgenssen, Birgit: Fensterputzen, 1975. Estate Nr. z400. Mit freundlicher Genehmigung d. Galerie Hubert Winter. birgitjuergenssen.com/werke/zeichnungen/z400 (26.11.2014).
2 Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Berlin: Dietz 1884.
3 Weibel, Peter: Birgit Jürgenssen oder Körper-Kunst wider die Semiotik des Kapitals. In: Ausst.-Kat. Birgit Jürgenssen. Früher oder Später (Linz: Oberösterreichisches Landesmuseum, 1998), S. 83-85. birgitjuergenssen.com/texte/texte-essays-interviews/weibel1988 (26.11.2014).